von Mycle SchneiderJa zur Atomenergie, nein zur Atombombe“, ließ der Vatikan zum 52. Jahrestag des Bombenabwurfs auf Hiroschima verlauten.
Das war vor drei Jahren. Renato Raffaele Kardinal Martino, päpstlicher „Friedens- minister“, erklärte damals im Interview gegenüber Radio Vatikan: „Wenn die Sicherheit der Anlagen und der Lagerung garantiert sind, wenn Produktion, Verteilung und Verkauf der Atomenergie streng geregelt sind, dann scheint mir, dass die Voraussetzungen für eine ,integrierte‘ Energiepolitik da sind. Mit diesen Voraussetzungen bildet die Atomenergie eine Form der sauberen Energie.“
Markus Vogt, Professor für christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians- Universität in München und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Sozialethikerinnen und Sozialethiker des deutschsprachigen Raums, qualifiziert die Stellungnahme Martinos als „nicht repräsentativ“. Doch hält nicht nur Martino die Atomkraft für eine „saubere Energie“. Papst Benedikt XVI. verkündete zum 50. Geburtstag der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) im Juli 2007: „Die in den letzten 50 Jahren eingetretenen epochalen Veränderungen machen deutlich, dass es an den schwierigen Scheidewegen, an denen sich die Menschheit befindet, immer aktueller und dringlicher wird, für die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen einzutreten, eine progressive und konzertierte Abrüstung von Kernwaffen zu fördern und den friedlichen und sicheren Gebrauch der Kerntechnologie für eine echte Entwicklung zu begünstigen, welche die Umwelt achtet und immer auf die stark benachteiligten Völker bedacht ist.“
Gegen jede Dämonisierung
Der Vatikan beschränkt sich keinesfalls auf die Rolle des Beobachters in der IAEO, er ist auch Gründungsmitglied der Organisation und propagiert immer wieder die Atomkraft. Auf der Jahresver- sammlung 2008 hatte Vatikanvertreter Erzbischof Dominique Mamberti die friedliche Nutzung der Atomenergie als „einen der wesentlichsten Bereiche menschlichen Unterfangens“ bezeichnet. Ein Jahr später übermittelte Bischof Sánchez Sorondo, Kanzler der päpstlichen Akademie der Wissenschaften und Leiter der Delegation des Vatikans, dem neu gewählten Generaldirektor Amano nicht nur seine Glückwünsche, sondern erklärte auch: „Wir freuen uns auf die gemeinsame Arbeit, mit ihm für die friedlichen Anwendungen der Nukleartechnologie zu werben.“ Werbung geht weit über bedingte, passive Akzeptanz hinaus. Die Position lässt sich auch so interpretieren, als erhebe Rom die Förderung der Atomkraft quasi zur ethisch-moralischen Pflicht im Interesse des Wohles der Menschheit. Auch in Deutschland hat die Hierarchie der katholischen Kirche historisch die Kritik an der Atomkraft in die Ecke der Fortschrittsfeindlichkeit gerückt. So erklärte der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Joseph Kardinal Höffner, bei deren Herbstvollversammlung 1985, sieben Monate vor der Tschernobyl-Tragödie: „Eine Dämonisierung der Kernenergie ist unsachlich.
Wer dem romantischen Ideal der „Rückkehr zur grünen Natur“ huldigt, sollte nicht vergessen, dass dann im Gebiet der heutigen Bundesrepublik – wie vor 1500 Jahren – etwa 700 000 Menschen leben könnten.“
Innerhalb der evangelischen Kirche ist die Haltung gegenüber der Kernkraft erkennbar kritischer (siehe Text unten). Und dennoch liegt auch Sozialethiker Markus Vogt nicht gänzlich falsch, wenn er die atomkraftfreundliche Position des Vatikans als „nicht repräsentativ“ für die katholische Kirche und ihre Mitglieder in der Welt bezeichnet. Es gibt zahlreiche Stellungnahmen von katholischen Institutionen und Organisationen, die der Nutzung der Kernkraft eindeutig kritisch gegenüberstehen.
Viele sprechen sich auch gegen die Verlängerung der Laufzeiten der deutschen AKWs über die noch gesetzlich festgelegten Fristen hinaus aus. So kommt das Zentralkomitee der Katholiken (ZdK) 2008 zu dem Ergebnis, die Gewinnung von Kernenergie sei zwar im Gesamtzyklus emissionsärmer als die Energieerzeugung durch Kohlekraftwerke. „Angesichts der Risiken, der ungelösten Problematik der Endlagerung und der Gefahr der Verbreitung von Atomwaffen stellt die Kernenergie jedoch längerfristig keine verantwortungsvolle Möglichkeit dar, die Probleme des Klimawandels zu lösen. Eine Verlängerung der Laufzeiten ist deswegen nicht zu befürworten.“
Die katholische Landjugendbewegung fordert von der neuen Bundesregierung „im Sinne von Schöpfungsverantwortung und internationaler Gerechtigkeit“, dass der vereinbarte Atomausstieg nicht infrage gestellt wird. „Zum Schutz von Mensch und Natur muss verstärkt darauf hingewirkt werden, den Ausstieg in der gesetzlich vereinbarten Zeit abzuschließen.“ Die ranghöchste kritische Stellungnahme in der katholischen Kirche wurde in der Deutschen Bischofskonferenz erarbeitet, genauer gesagt von der Arbeitsgruppe für ökologische Fragen der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen.
Die Arbeitsgruppe bezweifelt, dass die aktuell wieder debattierte Kernenergie eine dauerhaft tragfähige Lösung des Klimaproblems darstellt. „Bezogen auf den gesamten Produktionsprozess ist Kernenergie keineswegs klimaunschädlich. Zudem sind auch die Uranvorräte begrenzt. Vor allem aber ist die Kernenergie mit schwerwiegenden Risiken und ungelösten Folgeproblemen verbunden, die aus Gründen intergenerationeller Gerechtigkeit nicht den nachrückenden Generationen aufgebürdet werden dürfen. Sie verstößt darüber hinaus gegen die Grundsätze der Vorsorge und Verhältnismäßigkeit.“
Doch hadert auch diese Arbeitsgruppe, deren Ergebnisse für die höchste Instanz der katholischen Kirche in Deutschland immerhin Vorschlagcharakter haben, mit einer eindeutigen Aussage. Trotz klarer inhaltlicher Argumentation, die eigentlich sachlich ausschließt, dass das Kriterium der Nachhaltigkeit bei der Atomenergie erfüllt ist, fasste Erzbischof Robert Zollitsch zum Abschluss der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda die Position wie folgt zusammen: „Ob die Kernenergie dauerhaft für die Energieversorgung verwendet werden kann, ist zu bezweifeln.“
Unter Strom: Kruzifix vor dem Atomkraftwerk im fränkischen Grafenrheinfeld.
Markus Vogt, ebenfalls Mitglied der Arbeitsgruppe, hat für das Dilemma eine geradezu artistische Formulierung gefunden: „Der Ausstieg aus der Kernenergie ist geboten. Sein Vollzug ist jedoch erst dann ethisch in vollem Maß qualifiziert, wenn er so gestaltet wird, dass er durch den Ausbau von regenerativen Versorgungssystemen und die konsequente Nutzung von Einspar- und Effizienzpotenzialen kompensiert werden kann.“
Die Positionen der beiden großen Kirchen in Deutschland mögen recht unterschiedlich ausfallen, dennoch fällt eine Gemeinsamkeit auf: Der konzeptuelle Ansatz beider Kirchen ist in den konservativ-überholten Schemata von Energie-versorgung und -verbrauch steckengeblieben. Dabei ist es eben dieser Ansatz, der in Deutschland zu einem grotesken Phänomen geführt hat: Trotz des Baus von über 20 000 Windmühlen und des Prestiges eines „Solarweltmeisters“ sind die Emissionen gerade im Stromsektor weiter gestiegen und waren 2007 praktisch wieder identisch mit dem Stand von 1990. Denn der Verbrauch ist schneller gewachsen als die Dekarbonisierung der Kilowattstunde.
Recht auf warmes Essen
Die Kirchen könnten einen weitaus größeren Beitrag zum Umbau der Energiewirtschaft leisten, wenn sie konsequent die Qualität der Energiedienstleistung wie gekochtes Essen und warme Wohnungen als das entscheidende Bewertungskriterium ansetzen würden. Strom allein zum Beispiel nutzt einer Familie nichts, wenn sie den Strom nicht bezahlen kann. Sie braucht auch den Strom selbst nicht, sondern sie braucht die erbrachte Energiedienstleistung. In Frankreich, dem Land mit dem höchsten Atomstromanteil in der Welt, können geschätzte fünf Millionen Familien es sich nicht leisten, sich im Winter menschenwürdig zu wärmen.
Hier liegt aber genau die ethische Pflicht: Ziel der Energiepolitik muss es sein, allen Menschen den Zugang zu erschwinglichen Energiedienstleistungen zu ermöglichen: gekochtes Essen, Wärme und Kühlung, Licht, Kommunikationsmittel, Mobilität und mechanische Arbeitskraft. Die Öffentlichkeit muss endlich aufhören, sich Gedanken darüber zu machen, wie am besten Energie produziert wird, die dann zum größten Teil zum Fenster rausgeworfen wird. Stattdessen gilt es zu überlegen, wie fundamentale Energiedienstleistungen am intelligentesten, das heißt am billigsten, schnellsten und umweltfreundlichsten bereitgestellt werden können. Genau hier liegt die ethische Herausforderung der Energiepolitik der nächsten 20 Jahre. Das Thermometer von Versagen und Erfolg wird nicht nur von Mutter Erde, sondern vor allem auch von den Armen dieser Welt abgelesen werden.