Von Comeback-Mythen und industriellem Niedergang
01/06/23 11:31 Filed in:
Society | PoliticsDie letzte Hiobsbotschaft für die gebeutelte französische Atomwirtschaft war die Entdeckung eines 15 Zentimeter langen und 23 Millimeter tiefen Risses in einem Rohr des Kühlkreislaufes des Reaktors Penly-1. Damit hatte sich der Schaden bereits 85 Prozent durch die Rohrwand gefressen. Ab einem Drittel Tiefe gelten solche Risse als akut bruchgefährdet.
Die französische Energieministerin Agnès Pannier-Runacher war empört, allerdings nicht über die schockierende Entdeckung. „Es ist genauso banal, thermische Ermüdungsrisse in einer Rohrleitung zu entdecken, wie festzustellen, dass Geräte altern!“, sagte sie Mitte März 2023 vor der Nationalversammlung. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht einen exzellenten Wirtschaftszweig und 220.000 Mitarbeiter in Misskredit bringen, die Tag und Nacht arbeiten, um unsere Resilienz im Energiebereich zu gewährleisten.“ Der Auftritt Pannier-Runachers ist nur eines von vielen Beispielen, wie Entscheidungsträger alles tun, um die kollektive Realitätsverleugnung der katastrophalen Situation der Atomindustrie – nicht nur in Frankreich – auf hohem Niveau zu festzuzurren.
Während fast alle Indikatoren, die wir mit dem jährlichen World Nuclear Industry Status Report (WNISR) verfolgen, auf Rot stehen, kolportieren viele Medien die Mär von der Renaissance der Atomkraft. Im Wall Street Journal sieht jemand ein „Global Nuclear Power Comeback“, der Tagesspiegel beschreibt eine „Weltweite Renaissance der Atomkraft“. Aber niemand definiert sie oder analysiert, ob ein massiver Ausbau der Atomkraftkapazitäten wirklich stattfindet beziehungsweise kurz- oder mittelfristig überhaupt industriell denkbar wäre. Die Debatte ist in einem sterilen, meist faktenfreien Pro und Contra steckengeblieben.
Globaler Rückgang von Reaktoren
2022 sind weltweit sieben Reaktoren in Betrieb gegangen, darunter drei in China und einer in Pakistan, von chinesischen Firmen gebaut. Im Laufe des Jahres sollten noch weitere 15 Meiler die Stromerzeugung aufnehmen. Die Industrie ist nicht in der Lage, die letzten Monate oder Wochen eines Bauprojektes korrekt vorherzusagen. 2022 gingen fünf AKWs vom Netz, drei in Großbritannien, und jeweils eins in den USA und Belgien. In den vergangenen 20 Jahren gab es weltweit 99 Betriebsaufnahmen und 105 Schließungen, doch China allein brachte 49 Reaktoren ans Netz und stellte keinen ab. Außerhalb Chinas ging folglich die weltweite AKW-Flotte netto um 55 Reaktoren zurück.
Schon 1989 waren mehr AKWs in Betrieb als heute, und das historische Maximum wurde vor 20 Jahren erreicht. Während China als einziges Land massiv AKWs hinzugebaut und Frankreich sowohl bei der Zahl der Reaktoren als auch der Atomstromproduktion von Rang zwei, hinter den USA, verdrängt hat, bleibt die Rolle der Atomkraft dort sehr bescheiden. Der Anteil stagniert bei etwa fünf Prozent im Strommix und seit 2012 produzieren Windanlagen mehr Strom als AKWs. Während die drei neuen AKWs 2022 etwa 2,2 Gigawatt (GW) neue Kapazität bringen, gingen spektakuläre 125 GW Solar- und Windkraftwerke ans Netz. Die Stromproduktion aus Sonne und Wind stieg letztes Jahr in China um über 100 Terawattstunden (TWh), das Zehnfache des Zuwachses aus der Atomflotte.
Schaut man sich die Neubauten an, so steht China mit 22 von 59 aktiven Baustellen ganz oben. Doch Russland ist mit Abstand der größte Technologielieferant. Insgesamt 25 im Bau befindliche Projekte in neun Ländern, darunter fünf in Russland und jeweils vier in China, Indien und der Türkei, verwenden russische Reaktordesigns. In der EU27 war in den letzten 30 Jahren gerade mal für zwei AKWs Baubeginn: die EPR-Projekte (European Pressurized Water Reactor, Europäischer Druckwasserreaktor) Olkiluoto-3 in Finnland – das nach 17 Jahren Bauzeit im Frühjahr etwas Strom produziert hat und dann wegen Schäden in den Speisewasserpumpen wieder abgeschaltet wurde – und Flamanville-3 in Frankreich, das auch 16 Jahre nach Baubeginn noch keine Kilowattstunde geliefert hat. Allein im Jahr 1979 begann für 20 Reaktoren in den Ländern der heutigen EU27 der Bau. Weltweit standen damals 234 Einheiten in der Baustatistik, heute ist es ein Viertel davon.
Das ruinöse 20-Milliarden Projekt in Flamanville ist nicht die einzige Sorge der französischen Atomwirtschaft. Seit 2015 geht die nukleare Stromproduktion zurück. Schon 2019 gab es 5.580 Reaktorausfalltage mit Nullproduktion, im Schnitt 96 Tage pro Reaktor, darunter 1.700 Tage ungeplant, denn die Wartungszeiten waren durchschnittlich 44 Prozent länger als vorgesehen. In den Nachfolgejahren wurde dann eindeutig, dass die Électricité de France (EDF), größter Atomkraftbetreiber der Welt, die Kontrolle über ihre Produktionsmittel komplett verloren hat. Im Jahr 2022 standen die 56 Reaktoren im Schnitt 152 Tage still, der Lastfaktor fiel auf 52 Prozent. Der Lastfaktor wird aus der nominalen Leistung eines Kraftwerks und den der Produktion entsprechenden Volllaststunden im Jahr ermittelt. Zum Vergleich: Die Offshore-Anlage Hywind Scotland erreichte über die letzten fünf Jahre einen durchschnittlichen Lastfaktor von 54 Prozent und die britische Regierung hat einen Benchmarkwert für Offshore Windanlagen von 57 Prozent für 2030 gesetzt. Frankreich wurde hingegen 2022 zum Nettostromimportland, darunter über 15 TWh netto aus Deutschland.
Die EDF-Bilanz 2022 ist eine nationale Katastrophe. Das Unternehmen hat fast 18 Milliarden Euro Verlust gemacht, und seine Nettoschulden sind auf 64,5 Milliarden Euro—etwa der Wert aller französischen Staatsbeteiligungen—explodiert. Angesichts des absehbaren Finanzdebakels hat die Macron-Regierung im Sommer 2022 die Reißleine gezogen und die Vollverstaatlichung EDFs angekündigt. Der Börsenwert war unter acht Euro pro Aktie, ein Zehntel des historischen Spitzenwertes, gesackt. Kleinaktionäre sind mit den gebotenen zwölf Euro pro Aktie unzufrieden und haben auf eine bessere Vergütung geklagt. Das Urteil steht noch aus.
Verzweifeltes Agieren von Politik und Wirtschaft
Mitten in dieser Krisensituation legte die französische Regierung ein Gesetz zur Beschleunigung des Neubaus von bis zu 14 Atomkraftwerken des Typs EPR2 vor. Diese Weiterentwicklung des Flamanville EPRs gibt es noch nicht, und die nationale Industrie war bisher weder in der Lage, einen einzigen EPR fertigzustellen noch mit den diversen technischen Problemen der alternden Flotte klarzukommen. Schon die seit Herbst 2021 an zahlreichen Reaktoren festgestellte Spannungsrisskorrosion hat die Kapazitäten überfordert: Schweißer wurden aus den USA und Kanada eingeflogen, neue Rohrstücke in Italien gefertigt, und Inspektionen der gesamten AKW-Flotte sollen sich bis mindestens Ende 2025 hinziehen.
Angesichts überspannter Finanzen und düsterer Aussichten kann es nicht verwundern, dass die französische Regierung alles tut, um neue Geldquellen aufzutun. Die Nuklearisierung der europäischen Taxonomie war der erste Schritt, nun soll atomarer Wasserstoff begrünt und als strategische Net-Zero-Technologie anerkannt werden. Aussichten auf einen raschen Neubau von AKWs gibt es nicht. In Europa existieren einfach keine entsprechenden industriellen Kapazitäten. Deshalb ist das erste Ziel, Subventionen für existierende Reaktoren zu mobilisieren, wie es auch unter den neuen Taxonomieregeln möglich ist. Die große Chance, einen europäischen Goldstandard für klimarelevante Investitionen zu schaffen, wurde verpasst. Es bleibt abzuwarten, ob die französische Regierung mit ihren Atomalliierten in Europa weiter auf Erfolgskurs bleibt und weitere Milliarden für das nukleare Fass ohne Boden organisieren kann.
Apropos Resilienz im Energiebereich: Die vielschichtigen Probleme der Atomwirtschaft werden sich so nicht lösen lassen. Und auch eine nachhaltige Klimapolitik müsste anders aussehen. Atomkraft hält zwar jenseits des Rheins noch einen Anteil von über 60 Prozent im Strommix, doch bei der Endenergie sind es nur etwa 17 Prozent, während die fossilen Energien auch beim nuklearen Nachbarn fast zwei Drittel ausmachen.